10 interaktive online Movies von Esther Hunziker, 2008

Man sieht eine kurze Szene aus dem Alltag, dem öffentlichen Raum, Strassen, öffentliche Plätze, Kreuzungen, Haltestellen. Menschen in Bewegung, Menschen die sich kreuzen, warten, nebeneinander hergehen, sich begegnen. Eingefangene, zufällige, anonyme, unspektakuläre Szenen. Ein paar Sekunden, sich immer wiederholend.

Der Ton ist in jeder Szene derselbe, ein Rauschen. Ein statischer Ton der nicht die Orginalszene beschreibt sondern das technische Abbild. Die digitale Aufnahme.

Der Film kann vom Anwender jederzeit durch verschiedenste Rollover-Punkte beeinflusst werden, indem der zeitliche synchrone Ablauf gestört wird. Die aktuelle Abspielposition wird angehalten und der Film gleichzeitig dupliziert. Das Signal wird verdoppelt; während die Orginalszene als ‘Still’ eingefroren wird läuft das Duplikat weiter. Die Menschen laufen aus ihrem eigenen Bild. Es kommt zu einer Interferenz. Das Bild wird instabil, unklar. Energie wechselwirkt mit sich selbst.

«Der Hirnforscher Karl Pribram behauptet unser Hirn spricht in erster Linie nicht in Worten oder Bildern mit sich selbst und dem Rest des Körpers, ja nicht einmal in Bits oder chemischen Impulsen, sondern in der Sprache von Wellen-Interferenzen, der Sprache der Phase, Amplitude und Frequenz – dem ‘Spektralbereich’. – Wir nehmen ein Objekt wahr, indem wir in Resonanz zu ihm treten und unsere Schwingungen mit denen des Objektes synchronisieren. Die Welt zu kennen, bedeutet buchstäblich, sich auf ihrer Wellenlänge zu befinden.»

«... die Nichtidentität eines Phänomens mit sich selbst, das 'Fehlen' (...) von Selbst-Präsenz, die aus den Fugen geratenen Un-Zeitigkeit des Dings, das man Geist nennt.» Jacques Derrida





Review:
Joanna Render, Joanna Render Gallery Berlin, 2008

Die zehnteilige Werkserie «ooo» von Esther Hunziker ist ein Online Kunstwerk, das philosophisch und formal über das Sichtbare und Unsichtbare alltäglicher Wahrnehmung erzählt. Darin wird die Frage nach der Wirklichkeit als ein Konstrukt aus komplexen geistigen und körperlichen Prozessen gestellt. Besucher steuern bei diesem Werk selbst, wie sich der Ablauf entwickelt.

«ooo» spielt im öffentlichen Raum. Alltägliche urbane Szenen, auf Video aufgezeichnet, werden in ein Browserfenster geladen. Aufrufen kann man diese online weltweit über zehn verschiedene «ooo-Domains», die Esther Hunziker frei gewählt hat. Man sieht Menschen in bestimmten Aktionen, sie bewegen sich aneinander vorbei, sie warten, treffen sich, entfernen sich wieder. Die Aufnahmen erscheinen völlig unspektakulär. Spontan stellt man sich die Frage in welcher Position man selbst ist, wenn man diese Momente betrachtet. Welcher Art sind die Bilder? Handelt es sich um Paparazzi-Shots von prominenten Persönlichkeiten, die unerkannt bleiben wollten? Sind es kriminalistische Beobachtungen von möglichen Terroristen? Die Kadrierung der Filme ist bewegt, die Szenen sind eindeutig mittels Handkamera aufgenommen, es handelt sich folglich nicht um Szenen einer automatisierten Überwachungssituation. Ein paar Sekunden läuft eine unscheinbare Handlung - dann wiederholt sich die Szene im Dauerloop. Jede Aufnahme steht für eine Absicht, für eine bestimmte Autorenschaft. Welcher Zweck wurde bei der Aufnahme der Bilder verfolgt?

Jaques Derrida sagte in «The Science of Ghosts», er glaube, dass «die modernen Entwicklungen der Technologie und der Telekommunikation von Bildern die Macht von Geistern verstärken können, ebenso wie ihre Fähigkeit, uns zu jagen». «Vive les fantomes!». Esther Hunziker hat nach Beobachtungen «gejagt», die so neutral und allgemeingültig sind, dass sie stellvertretend für beinahe jeden urbanen Ort der Welt stehen könnten. Die Ergebnisse werden von Esther Hunziker als einzelne Einstellung im Dauerloop präsentiert.

Mit der Wiederholung schärft sich der Blick auf den Ablauf der «ooo»-Momente. Man bemerkt, dass jede Szene etwas Besonderes hat, eine einzigartige zufällige Anordnung, einen besonderen Blick, eine unerwartete Bewegung. Durch das Spiel mit den Szenen entstehen neue Beobachtungen von Geheimnissen des Bildinhaltes, sowie Reflexionen darüber. Dies wiederum führt zu einer Spiegelung des Selbst, das sich von Mal zu Mal stärker für verborgene Fragen öffnet.

«ooo» ist wie ein Thema mit Variationen als eine Art Videomelodie aufgebaut. Esther Hunziker reduziert die Information ihrer Bilder auf ein Minimum, und öffnet sie interaktiv für die Betrachter.
Auf der Website des entsättigten Films befinden sich zehn sichtbare Rollover Punkte. Durch die Berührung der Punkte wird der synchrone Ablauf des Films «gestört», angehalten, erweitert, verdoppelt und überlagert. Der Betrachter kann mit Bildern spielen, die sich über das Hauptmotiv blenden, während sie aus diesem selbst generiert werden. Die Menschen «laufen aus ihrem eigenen Bild». Als User nimmt man so performativ Einfluss auf die Entwicklung des Films. Gleiche Bilder überlagern sich, interferieren. Das Ensemble wird instabil und unklar.
Begleitet werden die Aufnahmen von einem statischen Rauschen. Der Ton beschreibt nicht die Originalszene, sondern vielmehr dessen technisches Abbild - ein Hintergrundrauschen, eine Frequenz, die wir nicht einordnen können, die aber möglicherweise auf die Präsenz von irgendeinem technischen Gerät hinweist.

In Robert Schumanns «Geistervariationen» klingen sehr reduzierte, minimale, unspektakulär zu nennende Tonfolgen an - Schumann wähnte sich von Geistern umgeben, die ihm teils «wundervolle» teils «grässliche» Musik darboten. Je nach Stimmungslage der Zuhörer können diese Tonfolgen unterschiedlich empfunden werden.
Die Variationen von Esther Hunzikers Videomelodien wiederum können vom Betrachter selbst komponiert und gespielt werden: jeder Moment ist wie eine individuelle Improvisation, wie eine Performance von Bildkompositionen. Durch den vielfältigen spielerischen Umgang mit ein- und demselben Motiv dringt der Betrachter in Wahrnehmungstiefen ein, die durch ein einmaliges Betrachten von einem Film nicht erreicht werden können.
Bereits 1878 thematisierte Friedrich Nietzsche in seinem «Buch für freie Geist er: «Wenn dasselbe Motiv nicht hundertfältig [...] behandelt wird, lernt das Publikum nicht über das Interesse des Stoffes hinauskommen; aber zuletzt wird es selbst die Nuancen, die zarten, neuen Erfindungen in der Behandlung dieses Motives fassen und genießen, wenn es also das Motiv [...] kennt und dabei keinen Reiz der Neuheit, der Spannung mehr empfindet.

Esther Hunziker ging nicht auf den länderspezifischen Hintergrund der Aufnahmen ein, sondern betont ausdrücklich den beliebigen global gültigen Kontext, in dem die Szenen spielen. Der Titel «ooo» wurde für die zehn unterschiedlichen Momente mit zehn länderspezifischen Top-Level Domains kombiniert. Deren Auswahl war dabei zufällig. Es handelt sich um «eine virtuelle Adresse: Honduras ist überall».

Joanna Render nach einer Konversation mit Esther Hunziker


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An interactive net art project by Esther Hunziker, 2008. Contact: hunziker@ref17.net, www.ref17.net